KI hat längst Einzug ins Engineering gefunden. Warum sind große Sprachmodelle wie die Technologie hinter ChatGPT besonders wichtig für das Engineering?
Große Sprachmodelle sind wichtig, weil sie natürliche Sprache verarbeiten und Neues generieren können. Im Engineering wird viel mit Sprache gearbeitet, sei es bei Anforderungen, Softwarecode oder Testfällen. Diese KI-Modelle helfen, die Effizienz zu steigern, Entwicklungszyklen zu verkürzen und die Qualität zu verbessern.
Wie unterstützt Künstliche Intelligenz Entwickler dabei, aus Proof of Concept Ideen einen konkreten Mehrwert für Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen?
KI-Entwickler stehen vor mehreren Hürden. Sie müssen einen stabilen technologischen Kern entwickeln, der für alle Anwendungen die gewünschte Genauigkeit bietet. Zudem sollten sie die Kostenoptimierung, IT- und Datensicherheit sowie regulatorische Anforderungen berücksichtigen. Ein weiteres Thema ist das Benutzerinterface. Während ChatGPT ein benutzerfreundliches Interface bietet, reicht das im Engineering oft nicht aus. Entwickler benötigen Tools, die nahtlos in ihre täglichen Arbeitsprozesse integriert sind.
Wie sieht die Arbeit mit Künstlicher Intelligenz konkret aus?
Angenommen ich schreibe ein Buch und möchte, dass ChatGPT das nächste Kapitel basierend auf meinen bisherigen Ideen schreibt. Das Ergebnis werde ich nicht 1:1 übernehmen, sondern anpassen. Wenn ich einen Satz ändern möchte, wäre es einfacher, dies direkt in einem Texteditor zu tun. Ähnlich ist es im Automotive-Bereich. Entwickler benötigen eine Benutzeroberfläche, die an ihre Arbeitsprozesse angepasst ist und bei der sie bei Bedarf mit Ergebnissen interagieren können, um effizient mit KI-Tools zu arbeiten. Mit KI lassen sich Projektanforderungen auf viele formale Kriterien prüfen. Bei Bedarf kann die KI auch passende Korrekturvorschläge machen, die man annehmen oder überarbeiten kann.
IAV hat in diesem Zusammenhang die Begriffe "AI infused Company" und "AI infused Engineering" geprägt. Was bedeuten sie?
Der Begriff AI infused Company bezieht sich auf die Integration von Künstlicher Intelligenz in alle Unternehmensbereiche. Ein Beispiel ist der hausinterne Chatbot, der firmeninterne Informationen kennt und wie ChatGPT funktioniert. Diesen Wisdom Bot können alle Mitarbeitenden für tägliche Fragen zu Zuständigkeiten im Unternehmen oder bei IT-Problemen und vielem mehr nutzen.
AI infused Engineering bezieht sich auf den Einsatz von KI in technisch anspruchsvollen Fragestellungen, also dort wo die größte Wertschöpfung unseres Unternehmens liegt. Hier gibt es weniger Out-of-the-Box-Lösungen, weshalb unser Unternehmen eigene KI-Lösungen entwickelt, um einen Mehrwert am Markt zu erzielen.
Generell bedeutet AI infused in diesem Kontext, dass in jedem Schritt des Entwicklungsprozesses und im gesamten Unternehmensbereich überlegt wird, wo KI bereits heute einen sinnvollen Beitrag leisten kann. Es geht darum, die vorhandenen KI-Tools wie ChatGPT und andere mit niedriger Eintrittsschwelle zu nutzen, um die Effizienz und Produktivität zu steigern oder eigene Lösungen zu kreieren.
Früher haben wir oft überlegt, ob man einen Schritt automatisieren kann. Die Hürde war groß, da man ein Skript schreiben musste und jemanden brauchte, der das kann. Die Schwelle ist jetzt niedriger. AI infused bedeutet, in jedem Schritt zu überlegen: Kann ich hier KI sinnvoll einsetzen, um eine Automatisierung zu erreichen?
… und deswegen hat IAV eine ganze KI-Plattform entwickelt?
Genau, IAV hat eine erweiterbare Plattform entwickelt, die viele nützliche KI-Tools vereint, um verschiedene Herausforderungen im Engineering zu adressieren. Diese Plattform ist so konzipiert, dass im Laufe der Zeit immer mehr Module und Funktionalitäten hinzukommen können.
Aktuell umfasst die Plattform Themen wie Anforderungsmanagement, die Erstellung von Test-Cases, die Implementierung von Softwarecode, z. B. durch den Code Pilot, und das Handling der Komplexität von Projektdaten. Beispielsweise können komplexe Abhängigkeiten zwischen Funktionen dargestellt und durch einen Chatbot befragbar gemacht werden, um Informationen zu extrahieren und Abhängigkeiten zu untersuchen.
Für die Entwicklung von Fahrzeugen werden viele hunderttausend Anforderungen geschrieben. Mit dem Requirements Quality Checker haben wir einen KI-Service entwickelt, um die Anforderungsaufnahme zu beschleunigen und die Qualität der Daten zu erhöhen. Dieser Service prüft Projektanforderungen auf zahlreiche formale Kriterien und kann bei Bedarf auch die Anforderungen entsprechend korrigieren. Innerhalb eines Monats werden so etwa 35.000 Anforderungen von über 250 Nutzern bei IAV verarbeitet.
Die Plattform bietet eine einheitliche Basis und ein einheitliches Backend, was viele der zuvor genannten Herausforderungen reduziert. Die Idee dahinter ist, eine flexible und erweiterbare Lösung zu schaffen, die verschiedene Use Cases im Engineering abdeckt und kontinuierlich weiterentwickelt werden kann.
Wo beginnen wir in der Toolkette?
Typischerweise beginnen wir bei den Anforderungen, sie erstellen wir als erstes. Solche Anforderungen müssen hohen Qualitätsansprüchen genügen, da Fehler am Anfang der Kette viele Auswirkungen haben können. Hier unterstützt uns KI. Aktuell prüfen wir beispielsweise die Konsistenz der Anforderungen, ob es widersprüchliche Anforderungen gibt oder ob sie formal ordentlich aufgeschrieben sind. Später in der Kette, wenn Anforderungen geändert werden, können wir mit der Plattform helfen, die Auswirkungen dieser Änderungen zu analysieren und die Testfälle entsprechend neu zu erstellen.
„Die größte Herausforderung ist jedoch, die Nutzer zu befähigen, KI sinnvoll einzusetzen und sich der Potenziale und Grenzen bewusst zu sein. Es ist wichtig, dass Technologie uns nicht davon abhält, unseren Kopf zu benutzen und stets kritisch zu hinterfragen.“
Christian Nabert – KI-Experte bei IAV
Das heißt, wenn ich die KI-Lösung fürs Anforderungsmanagement nutze, kann ich daraus direkt Test-Cases ableiten?
Ja, zusammen mit der Architektur bilden die Anforderungen die Ausgangsbasis für Testfälle. Jede Anforderung wird durch Testfälle überprüft. Testspezifikationen lassen sich mit Hilfe von KI ableiten. Mit dieser KI-gestützten Erstellung von Testspezifikationen haben wir bereits über 10% Zeitersparnis realisiert, doch das Potential ist noch längst nicht ausgeschöpft. Kombinieren wir Large Language Models, also KI-basierte Sprachmodelle, mit Technologien wie Wissensgraphen können wir zuverlässig korrekte Testfälle zu erzeugen.
Wo stößt die KI aktuell beim Engineering an ihre Grenzen?
KI stößt bei der vollständigen Automatisierung komplexer, übergreifender Tätigkeiten an ihre Grenzen. Sie kann keine kompletten Autos basierend auf allgemeinen Anforderungen entwickeln und hat Schwierigkeiten bei übergreifenden Aufgaben, die verschiedene Rollen erfordern. Zudem sind sicherheitskritische Anwendungen herausfordernd, da sie eine hohe Präzision und Verlässlichkeit erfordern, z.B. bei der Erkennung von Ampeln.
Um KI umfassend einsetzen zu können, müssen wir alle notwendigen Daten verfügbar machen. In gewachsenen Strukturen erfordert dies oft Anpassungen. Voraussetzung ist auch, dass die Daten eine ausreichende Qualität haben und nicht widersprüchlich sind. Die größte Herausforderung ist jedoch, die Nutzer zu befähigen, KI sinnvoll einzusetzen und sich der Potenziale und Grenzen bewusst zu sein. Es ist wichtig, dass Technologie uns nicht davon abhält, unseren Kopf zu benutzen und stets kritisch zu hinterfragen.